Volkszählung und Einwohnerzahl, ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Leitsätze des Bundesverfassungsgerichts zum Urteil des Zweiten Senats vom 19.09.2018
– 2 BvF 1/15 –
– 2 BvF 2/15 –
- Eine staatliche Volkszählung durch Auswertung vorhandener Register und ergänzende Individualbefragungen fällt unter Art. 73 Abs. 1 Nr. 11 GG.
- Soweit das Grundgesetz unmittelbar an die Zahl der Einwohner anknüpft, muss der Gesetzgeber ihre realitätsgerechte Ermittlung sicherstellen.
- Bei der Regelung des Erhebungsverfahrens verfügt der Gesetzgeber über einen Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum. Er muss den an eine „gültige“ Prognose zu stellenden Anforderungen genügen. Weitergehende prozedurale Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren bestehen hingegen nicht.
- Soweit Rechtsstellung, Finanzkraft und Finanzbedarf der Kommunen von ihrer Einwohnerzahl beeinflusst werden, beruht dies typischerweise auf landesrechtlichen Regelungen des Kommunal- oder Kommunalfinanzverfassungsrechts. Ein dem Bund zurechenbarer Eingriff in ihre Rechtsstellung liegt darin nicht.
- Das Bundesstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) und die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG) in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgebot (Art. 20 Abs. 3, Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) verpflichten den Gesetzgeber grundsätzlich zu einer Gleichbehandlung nachgeordneter Hoheitsträger. Für den Bund gilt in Bezug auf die Länder insoweit ein föderatives, für Bund und Länder hinsichtlich der Kommunen ein interkommunales Gleichbehandlungsgebot. Gegen Beeinträchtigungen ihrer Rechtspositionen durch den Bund sind Ländern und Kommunen grundsätzlich Rechtsschutzmöglichkeiten eröffnet.
- Da es zum Wesen der Statistik gehört, dass die Daten nach einer statistischen Aufbereitung für die verschiedensten, nicht von vornherein bestimmbaren Aufgaben verwendet werden, gelten für Volkszählungen Ausnahmen von den Erfordernissen einer konkreten Zweckumschreibung, vom Verbot, personenbezogene Daten auf Vorrat zu sammeln, sowie von den Anforderungen für Weitergabe und Verwertung (vgl. BVerfGE 65, 1 <47>).
- Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordert die Prüfung, ob aufgrund der Fortentwicklung der statistischen Wissenschaft Möglichkeiten einer grundrechtsschonenderen Datenerhebung bestehen.
Veröffentlicht: Nds. MBl. Nr. 34/2018 S. 917